Der Spiegelautor Jan Fleischhauer geht in seiner heutigen Kolumne “Der Deutschland-Skeptiker” hart mit dem EU-Politiker Juncker ins Gericht:
Juncker gründet seinen Anspruch auf das Ergebnis der Europawahl, bei der nicht nur über die Sitze im Europaparlament, sondern angeblich auch über den weit wichtigeren Posten des EU-Kommissionspräsidenten abgestimmt wurde.
Die Tatsache, daß die beiden Spitzenkandidaten der beiden großen Parteiengrupen bei der EU-Wahl vom 25.5.2014 im Wahlkampf mit einer möglichen Wahl zum EU-Kommissionspräsidenten argumentiert haben, bezeichnet er als “Betrug”. Das Verhalten glaubt er ferner als “Hütchenspielertrick” zu enttarnen:
Erst macht man dem Bürger vor, er könne über etwas abstimmen, was in Wahrheit in der Entscheidungsgewalt der Regierungschefs liegt. Wenn diese anschließend auf ihrem Recht beharren, die Selbstnominierung der Kandidaten zu ignorieren, ist von einer Missachtung des Wählervotums die Rede.
Abschließend fragt er dann nach der Qualifikation Junckers für diesen Posten und resümiert
Seine eigentliche Leistung besteht darin, 18 Jahre lang Regierungschef eines Landes gewesen zu sein, dessen Geschäftsmodell darauf beruhte, Steuerflüchtigen aus Nachbarländern einen sicheren Hafen zu bieten. Wie man von dem Geld anderer Leute lebt, davon versteht der Mann also etwas.
Dieser Blickwinkel ist allerdings sehr einseitig. Zwar ist es durchaus korrekt festzustellen, daß das Vorschlagsrecht für die EU-Kommision gemäß des EU-Vertrags dem Europäischen Rat vorbehalten ist. Die Tatsache, daß das am besagten 25.5.2014 neu gewählte EU-Parlament anschließend dem Vorschlag zustimmen muß (Artikel 17, Absatz 7) und im Falle einer Ablehnung ein neuer Vorschlag erarbeitet werden muß, räumt dem Parlament aber defacto ein Vetorecht ein. Darüber hinaus legt dieser Artikel ferner explizit fest, daß der Europarat bei seinem Vorschlag
dabei […] das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament [berücksichtigen]
muß. Daraus einen Betrug zu konstruieren, wenn jemand dann die ihm durch Mehrheit in einer Urwahl gegebene politische Macht durchsetzen möchte, ist wenig überzeugend und entpuppt sich bei einem zweiten Blick eher als kurzsichtig und gehört in den Bereich journalistischer Polemik.
Vielmehr drängt sich auf Basis der Stimmung, die die genannte Kolumne transporiert, auf, daß der Autor zur Gruppe der Deutschen gehört, die sich von einem überzeugten, förderativ denkenden Europäer nicht sagen lassen möchte, daß die gegenwärtige Haltung Deutschlands gegenüber der EU durchaus von monetärem, nationalem Interesse gesteuert wird. Denn die Fähigkeit, den anderen Staaten mangelnde Selbstreflektion vor Augen zu führen, ist eine Qualifikation von Herrn Juncker, die Herr Fleischhauer offenbar übersieht. Diese Eigenschaft ist es aber, die den “Politiker Juncker” nämlich zu einer europäischen Integrationsfigur werden lassen kann, die aber – zugegebenermaßen – für keine leichte Zeit im Europarat sorgen würde.
Statt also “Stimmung zu machen”, täte der Autor gut daran, die notwendige Richtungsdebatte über die Europäische Union voranzutreiben: Will die Mehrheit der Bürger eine förderative Europäische Union, die in Richtung der “Vereinigten Staaten von Europa” geht, so daß nationale Kompetenzen zentralisiert an europäische Institutionen abgegeben werden, oder wünschen sie sich eine Stärkung der nationalen Positionen mit dem Risiko in einer zwanghaft globalisierten Weltordnung protektionistische Entwicklungen abfedern zu müssen?
Ausgehend von der Antwort auf diese Frage läßt sich dann auch zügig die Personalfrage “Kommissionspräsident” beantworten: Im ersteren Fall wäre J-C. Juncker wohl der Richtige für den Job. Andernfalls sollten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im Interesse aller Beteiligten von einem Vorschlag Junckers besser absehen.